Sibirien ist besser als sein Ruf. Viele Menschen denken beim Klang des
Namens an endlose Schnee und Eiswüsten. Dabei verfügt Sibirien über das ausgeprägteste Binnenklima der Welt, heiße Sommer und außerordentlich kalte Winter. Am Unterlauf der Lena hat man Temperaturen von Minus 67 Grad gemessen, damit ist es einer der kältesten Orte der Erde. Die Luft ist so trocken und rein, dass Tuberkulose unbekannt ist.
Am nächsten Tag machte ich mich auf, um in die urwüchsige Taiga zu gehen (was nicht erlaubt war). Schon in Chabarowsk hatte ich von Einheimischen erfahren, dass die ungeheuren Landstrecken der Taiga noch nie von einem Menschenfuß betreten worden sind und dass selbst die kühnsten Pelzjäger es kaum wagen, weiter als hundert Meter tief in diese Waldwildnis einzudringen.

Die überschwemmte Graswiese war so vereist und spiegelglatt, dass man kaum vorwärts kam. Es gab auch keinen Weg, der in den nahen Bruchwald führte. Soweit das Auge reichte waren fast alle Bäume windbrüchig. Hier musste ein schauerlicher Schneesturm gewütet haben. Das Unterholz bestand nur aus trockenen Ästen, starken Knüppeln, die meist bis zu einen Meter hoch lagen, und umgestürzten, vom starken Frost zerplatzten toten Bäumen. Da das Tauwetter schon eingesetzt hatte, wurde der Boden sehr sumpfig und ich musste, um nicht einzusinken, immer versuchen, auf geeignete stabile Äste zu treten, ohne dass sie knickten. Gelang das nicht, steckte ich oft bis zu den Knien im dicken Morast. Langsam, mit möglichst unhörbaren Schritten und nicht auf dürre Äste tretend, sonst wäre die Pirsch verdorben, bewegte ich mich weiter vorwärts.
Da dieser Tag im April windstill war, brauchte ich den Wind nicht zu prüfen. Auf einer dreißig Meter hohen, knorrigen und sturmzerzausten Zeder schimpfte ein Kolkrabe mit tiefer Stimme: "quorr-quorr", ich war offensichtlich in seinem Revier eingedrungen. Deutlich kräftiger als Saat oder Nebelkrähe, ist er der größte Singvogel der Welt. Die am hell- bis tiefblauen Himmel kreisenden Saatkrähen stimmten bald mit ihrem heiseren "krah, krah" Gekrächze ein. Schackernd gab eine Elster ihren Senf dazu. Unter der Schneeschmelze entdeckte ich eine Eichhörnchenvorratskammer, bestehend aus Lärchenzapfen. In der Ferne hallte das trommelnde Klopfen eines Spechtes. Interessant war das vielfältig orange getönte Baumharz, das wie goldgelber Honig aus der Rinde einiger Birken floss. Auf den durch die ersten wärmenden Strahlen der Frühlingssonne schneefrei gelegten Stellen am Boden sah ich farnähnliche immergrüne Blätter, die mir gänzlich unbekannt waren. Weiter ging mein Weg zwischen Zirbelkiefern und noch laublosen Moorbirken. Das unerwartete Bellen eines Rehs ließ mich sofort im Schritt einhalten, denn es hörte sich fast an wie ein Laut des Bären. Eine Tannenmeise hüpfte aufgeregt von Ast zu Ast. Laut und hoch zirpend beschwerte sie sich über mein Näher kommen und warnte so die anderen Bewohner des Waldes. Zwei Krähen attackierten mit heftigen Schnabelhieben einen großen Greifvogel, der gerade auf der Krone einer abgestorbenen Kiefer aufblocken wollte, um eine kleine Waldlichtung zu kontrollieren. Der gewandte Ansitzjäger erinnerte mich an unseren einheimischen Mäusebussard. Unermüdlich flogen die schwarzen Raufbolde neue Sturzangriffe auf den "Bussard", der sich pertou nicht verjagen lassen wollte. Weit hatte der stolze Greif seine Flügel nach hinten gezogen, als er mit nur einem Fang, dessen Dolchklauen deutlich gespreizt waren, warnend nach einen der Krähenvögel schlug. Dieser jedoch war auf der Hut und wich mit einem akrobatischen Flugmanöver aus. Nun bedrängten ihn die Angreifer noch härter und wütender. Jagten ihn an, überflogen ihn, brachten sich in gute Angriffslage und ließen sich wie Steine auf den Greif fallen. Langsam wurde der Bussard unruhig und strich bald mit schwerfälligem Flügelschlag ab. Die Luftpiraten bekamen ihren Triumph und fielen in die nahe stehende Kiefer ein. Wo ein Schwingenschlag die Zweige streifte, fiel der letzte Restschnee lautlos zu Boden. Von der Last befreit schnellten die Äste hoch, schaukelten eine Weile und waren dann wieder ohne Bewegung. Um mich nicht zu verlaufen, ging ich nur gerade aus, den Stand der Sonne beachtend, Das war manchmal gar nicht so einfach, da die im Weg liegenden umgestürzten Bäume des Bruchwaldes stark vereist und sehr eng aneinander lagen. Die Hoffnung, irgendetwas Interessantes zu entdecken, ließ mich immer weiter wandern. Ein kleiner Zufluss loser Moorsee mit nur dünnen Eis musste jedoch umgangen werden. In einigen Wochen wird man diese Region kaum noch betreten können, da der einziehende Frühling hier eine offene Sumpffläche entstehen lassen wird. Von den umgeworfenen Bäumen und den am Boden liegenden Zweigen schmolz bereits der Schnee. Aus den feuchten Moosen und Flechtenpolstern tropfte kristallklares Wasser heraus und es entstanden kleine plätschernde Schmelzwasserrinnsäle, die, in Richtung Baikal fließend, den lang herbeigesehnten Frühling ankündigten. Schwere Tautropfen fielen von den Nadeln der Kiefern hörbar in die Stille des Waldes. Auf tiefe Schneedecken stieß ich nur noch selten. Die Tage des ausklingenden Winters waren gezählt, sein weißes Kleid vergraute und der Frost hatte seine eisige Gewalt verloren. In einem ausgedehnten Weißbirkenwald zwischen den Weymouthskiefern konnte ich einen Kleiber beobachten, wie er mit seinem kräftigen, spechtähnlichen Schnabel kopfüber in der rissigen Borke eines abgestorbenen Baumes nach Beute suchte. Irgendwie hatte ich ständig das Gefühl, beobachtet zu werden, aber wer sollte denn hier sein? Auf dem dünnen Eis, das mit nassem Schnee bedeckt war, brach ich ungewollt ein. An den scharfen Eisbruchkanten schabten sich schmerzend meine Schienenbeine. Das ist der Preis auf der Suche nach dem nicht Alltäglichen. Tief drückten sich die Schuhe in den schlammigen, aufgetauten Grund. Die hoch stehende Aprilsonne brachte den Restschnee zum Dampfen und das Auge suchte vergeblich am Boden nach festem Untergrund. Schief stehende junge Eichen und verkrüppelte kleine Birken dienten als Gehhilfe. An einem noch zugefrorenen einsamen und moorigen Waldtümpel entdeckte ich einige Malbäume. Hier hatten also die Schwarzkittel im Sommer eine Suhle. Im aufgeweichten nassen, mit vermoderten Laub bedeckten Waldboden war das Trittsiegel einer Wildkatze zuerkennen.
Nachdem ich gut drei Stunden unterwegs war, wollte ich nun meine heimliche Exkursion zum Abschluss bringen, denn die gleiche Zeit wurde ja noch einmal für den Rückweg gebraucht. Am späten Nachmittag lag das verschlafene Dorf wieder vor mir. Listwjanka, im April 1987

 

zurück  nach oben
Seite 2
all copyrights reserved @ 2000-

www.rafflesia.de